Matthias Glaubrecht: Am Ende des Archipels – Alfred Russel Wallace

Cover Glaubrecht

© Galiani

Der englische Naturforscher Alfred Russel Wallace ist hierzulande kaum bekannt. Viele haben sicher erstmals im Darwin-Jahr 2009 von ihm gehört, denn er hat zeitgleich mit Charles Darwin die Mechanismen der Evolution entdeckt und publiziert. Charles Darwin ist weltberühmt als Begründer der Evolutionstheorie. Alfred Russel Wallace hingegen ist fast vergessen. Erst jetzt, 100 Jahre nach Wallace´ Tod, hat der Evolutionsbiologe und Wissenschaftsautor Matthias Glaubrecht die erste deutschsprachige Biografie über ihn verfasst und erklärt, wie es zu diesem Ansehensverlust kam und welcher Anteil Wallace an der Evolutionstheorie zukommt.

In dieser Biografie wird Wallace gewürdigt als ein von Wissensdurst getriebener Autodidakt, der es durch genaue Beobachtung und akribisches Systematisieren geschafft hat, das der Natur zugrundeliegende Prinzip von Anpassung und Veränderung zu erkennen. Alfred Russel Wallace gilt heute als Begründer der Biogeografie, bei der es um die geografische Verbreitung von Tieren und Pflanzen geht. Begonnen hat er seine Laufbahn als Landvermesser. Er interessierte sich schon früh für die Geologie, Flora und Fauna seiner Heimat und studierte, ebenso wie Darwin, die maßgeblichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen seiner Zeit. Glaubrecht liefert eine sehr genaue Beschreibung der intellektuellen Entwicklung von Wallace einschließlich der Lektüre, die ihn geprägt hat (Lyell, Darwin, Humboldt, Malthus, vor allem Chambers´ Vestiges, in dem es bereits um das Thema Evolution ging). Aus seiner Leidenschaft als Hobbybotaniker und Käfersammler entwickelte sich der Wunsch zu reisen, um der Entstehung der Arten auf den Grund zu gehen.

Zunächst reiste Wallace für vier Jahre an den Amazonas. Schon bald fielen ihm die vielen kleinen Varianten bei Schmetterlingen und anderen Insekten auf, die er auf geografische Unterschiede zurückführen konnte. So gab es z.B. links eines Flusses andere Ausprägungen als rechts desselben Flusses. Wallace versuchte das dahinter liegende Muster dieser Abweichungen zu erkennen.

Von dieser ersten Reise blieb vor allem seine genaue Karte des Rio Negro erhalten. All seine Forschungstagebücher und fast die komplette naturkundliche Sammlung gingen bei einem Schiffsbrand auf der Rückreise nach England verloren. Aber der Grundstein für seine Theorien zur Biogeografie und zur Entstehung der Arten war gelegt.

Anschließend reiste Wallace für weitere acht Jahre (von 1852 bis 1862) zum Malayischen Archipel. Dies waren die entscheidenden Jahre, in denen er die Tiere, Pflanzen und auch die Menschen dieser üppigen, tropischen Welt mit all ihren Varianten erforschte. In dieser Zeit erkundete er die Inseln von Malaysia bis Neuguinea, von Borneo bis zu den Molukken, er sammelte und präparierte unermüdlich Pflanzen und Tiere, die er zur Finanzierung seiner Reise nach England verschiffen und verkaufen ließ.

Dabei erkannte er, dass sich mitten in dieser Inselwelt eine Grenze befand, die die Flora und Fauna auf beiden Seiten deutlich voneinander trennte, obwohl die räumliche Entfernung relativ gering war. Diese durch den Malayischen Archipel verlaufende Grenze zwischen Asien und Australien wurde später Wallace-Linie genannt.

Neben seinen Forschungstagebüchern und vielen Briefen verfasste Wallace in dieser Zeit zwei wichtige Aufsätze, in denen er seine Erkenntnisse festhielt: den auf Sarawak entstandenen Essay Über das Gesetz, welches das Entstehen neuer Arten reguliert hat sowie den Ternate-Aufsatz Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen. Dies sind die Schlüsseltexte von Wallace über die Entstehung der Arten. Aufgrund von geologischen Veränderungsprozessen müssen sich sowohl Individuen als auch Arten anpassen, wobei manche Arten aussterben und andere dafür neu entstehen. Wallace beschreibt klar und deutlich das Leben als ständigen Kampf ums Überleben, die Auslese der besser an die jeweiligen Umweltbedingungen angepassten Individuen, den permanenten Wandel der Arten. Den sogenannten Ternate-Aufsatz schickte Wallace zur Begutachtung an Charles Darwin.

Erst die Lektüre dieses Manuskripts brachte Darwin vermutlich dazu, endlich sein eigenes Buch Über die Entstehung der Arten fertigzustellen und zu veröffentlichen. Noch immer existieren darüber Verschwörungstheorien: es wird spekuliert, ob Charles Darwin entscheidende Ideen von Wallace übernommen hat! Generationen von Wissenschaftlern haben über Schiffsrouten und Postlaufzeiten recherchiert, um den genauen Ablauf der Ereignisse offenzulegen; wann Darwin den Text von Wallace erhielt, wann er darüber mit anderen korrespondierte, welche Textteile seines Hauptwerkes mit anderer Tinte oder auf anderem als dem ursprünglichen Papier verfasst wurden. Fest steht, dass der Aufsatz von Wallace zusammen mit einem Aufsatz Darwins über die Evolution zeitgleich veröffentlicht wurde und dass Darwin bald darauf sein umfangreiches Werk Über die Entstehung der Arten veröffentlichte. Auch wenn sie zu ihrer Zeit als gemeinsame Begründer der Evolutionstheorie galten – der Nachruhm verblieb allein bei Darwin und Wallace geriet in Vergessenheit.

Wallace hat sich Zeit seines Lebens nicht daran gestört, dass Darwin als der Haupttheoretiker der Evolution galt. Er blieb bescheiden im Hinblick auf seinen Anteil, denn er verehrte Darwin und war sich der Tatsache bewusst, dass Darwin bereits seit 20 Jahren an seinem Werk gearbeitet hatte.

Nach seiner Rückkehr nach England verfasste Wallace einen ausführlichen Reisebericht sowie weitere wichtige Werke zum Darwinismus, zur geografischen Verteilung von Tieren sowie zu vielen anderen Themen. Wer sich heute mit seinem Werk auseinandersetzt, erkennt, dass Wallace in vieler Hinsicht ein Vordenker seiner Zeit war. So setzte er sich mit sozialer Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung ebenso auseinander wie mit dem potentiellen Leben auf dem Mars. Sein Hang zum Spiritualismus trübte allerdings seine wissenschaftliche Reputation.

Am Ende des Archipels ist lebendig geschildert, eine spannende Beschreibung des harten Forscheralltags, der abenteuerlichen Reiseepisoden, der langsam reifenden Erkenntnisse. Wurde Wallace durch Unwetter oder Krankheiten wie der Malaria am Reisen gehindert, so nutzte er die Zeit zum Nachdenken. Auf diese Art entstanden viele seiner genialen Ideen, die er dann bei weiteren Exkursionen überprüfte und ausarbeitete. Die Beschreibung dieser permanenten Denkarbeit macht dieses Buch so lesenswert. Dem Autor dieser Biografie ist es zu verdanken, dass Wallace´ Anteil am Entstehen der Evolutionstheorie auch im deutschsprachigen Raum gewürdigt wird und dass wir einen bisher fast unbekannten, faszinierenden Denker und Forscher kennenlernen können.

Matthias Glaubrecht: Am Ende des Archipels – Alfred Russel Wallace
Verlag Galiani / Kiepenheuer & Witsch 2013
ISBN 978-3-86971-070-9
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